Autor: Maximilian Gaub
Als der Kunde den neuen Vertrag liest, wird er wütend. „Warum erhöhen Sie die Preise, obwohl Ihre Gewinne steigen?“, will er wissen. Der Vertriebsmitarbeiter zögert. Sollte er argumentieren, dass ein paar Cent mehr immer noch geringer sind als die Inflationsrate? Oder besser einwenden, dass im Gegenzug andere Produkte günstiger geworden sind? Er spielt eine Karte.
Was wie eine echte Szene wirkt, ist tatsächlich ein Spiel. Ein Kartenspiel, mit dem Vertriebsmitarbeiter Verhandeln trainieren. Der Computer simuliert den Einwand eines Kunden – und der Spieler wählt eine Gegenargument-Karte aus. Je besser er antwortet, desto mehr Punkte erhält er; desto schneller schaltet er weitere Aufgaben frei; desto höher wird der kommende Schwierigkeitsgrad. „Wir haben für einen Kunden aus einem tausendseitigen Regelbuch ein Kartenspiel entwickelt“, erklärt Sibylla Krane, 36, Projektmanagerin von Gamify Now, einem Münchner Unternehmen, das sich auf Gamification spezialisiert hat.
Gamification ist der Einsatz von Spiel-Methoden außerhalb von Games
Gamification, holprig eingedeutscht „Spielifizierung“, ist der Einsatz von Elementen, Mechaniken und Methoden von (Computer-)Spielen, um Menschen außerhalb von Games zu motivieren. Simple Gamification belohnt Akteure für bestimmtes Verhalten mit Punkten oder Abzeichen bzw. visualisiert in einer Hitparade, wie sich vergleichbare Spieler schlagen. Fortgeschrittene Varianten bedienen sich der Geschichten, die der Spieler durch seine Aktionen in der realen Welt voranreibt. Oder kreieren aus Inhalten des Business-Alltags eigene Games – wie hunderte Regeln zum geschickten Verhandeln, übersetzt in ein Kartenspiel.
Spiele als didaktisches Vehikel, um in Unternehmen Inhalte zu vermitteln – aus diesem zarten Trend der letzten Jahre könnte ein Boom werden. Erstes Indiz: Analysten prophezeien dem Markt der Lern-Games im Jahr 2017 eine Größe von knapp neun Milliarden Dollar, 2012 waren es knapp vier. Zweites Indiz: Der globale Gamification-Markt scheint rasant zu wachsen – von 1,7 (2015) auf prognostizierte 11,1 Milliarden Dollar im Jahr 2020. Zunehmend immer mehr Unternehmen verstehen, dass sie mit Elementen aus Computerspielen Menschen motivieren: zu mehr Sport, für ihre Produkte – und bei internen Lernprozessen.
„Game Based Training“ nennen das Experten, andere sprechen von Serious Games – von Spielen, deren primäres Ziel nicht die Unterhaltung ist. „Gamification macht sich des Antriebs, dass Menschen gerne spielen, zunutze“, erklärt Thorsten Unger. Der 43-Jährige ist Geschäftsführer des Bundesverband der deutschen Game-Branche GAME. „Richtig konzipiert löst ein Spiel unter anderem den Ehrgeiz aus, gestellte Herausforderung anzunehmen und deren Aufgaben zu bestehen“, erläutert der Experte für computergestütztes Lernen. „Und es ermöglicht schnell Selbstwirksamkeit, weil der Spieler eine unmittelbare Rückmeldung erhält.“ Der Eindruck des eigenen Fortschritts motiviert.
Vorteil für Unternehmen I: Gamification motiviert und macht Spaß
Die Folge für die Geschäftswelt: „Ein Spiel, das jemanden motiviert, ein besserer Mitarbeiter zu sein, kann einem Unternehmen einen strategischen Vorteil verschaffen“, sagt Sibylla Krane. Gerade, weil Demotivation in Unternehmen ein Problem ist – wie das Gallup Institut in seiner jährlichen Studie über Arbeitszufriedenheit ermittelt. Für 2015 geben die Forscher für Deutschland an: Nur 16 von 100 Arbeitnehmern haben eine hohe emotionale Bindung zum Unternehmen – ein Wert, der sich seit Jahren bestätigt. Übersetzt in Euro bedeutet das einen geschätzten jährlichen Verlust durch Produktivitätseinbußen von bis zu 99 Milliarden Euro. Dabei geht es nicht nur um Geld. Sondern auch darum, „dass viele Mitarbeiter nicht das Gefühl haben, Fortschritte zu machen“, wie es Mario Herger formuliert. Der 45-Jährige Österreicher arbeitete jahrelang bei SAP als Global Head of Gamification und ist Autor zahlreicher Bücher zu diesem Thema. Für ihn ist der Einsatz von Spielmechanismen „ein Vehikel, um Motivationstheorien in Unternehmen zu transportieren“, wie er dem Blog Worldofmencraft jüngst erzählte.
Genau das ist Vorteil Nummer eins einer gamifizierten Lernumgebung: Sie motiviert und macht Spaß. Zum Beispiel durch eine Progression, die mindestens indirekt sichtbar wird, zum Beispiel über den berühmten Fortschrittsbalken. Oder sogar nachvollziehbar, wenn die Lernsoftware über ein Tracking-Modul verfügt: Wie lange hat der Lernende für welche Aufgabe gebraucht? Was beherrscht er bereits flüssig? „Vorgesetzte behalten im Blick, was wirklich hängen geblieben ist – und wie intensiv sich ein Mitarbeiter mit den Themen eines Unternehmens beschäftigt“, sagt Sibylla Krane. Und es bleibt mehr hängen. Experten schätzen, dass Lernende über eine Selbsterfahrung rund 90 Prozent des Inhalts behalten – bei Frontalveranstaltungen maximal 50.
Beispiel Walmart. Der Handelsriese entwickelte für seine Mitarbeiter ein Wissensspiel zu Produkten aus dem eigenen Sortiment – woher die Melone kommt, wie viel Lagen das Klopapier hat. Und das die Belegschaft annimmt, weil sie Punkte dafür einsammelt, einen Fortschrittsbalken füllt und so etwas visualisiert, wozu die Teilnehmer ohnehin eine hohe Eigenmotivation besitzen, „weil sie vor dem Kunden als Experte dastehen möchten“, wie Mario Herger erklärt. Der Fortschrittsbalken dient hier als bestätigende Illustration des Know-How-Zuwachs’.
Beispiel Adidas. Der Sportartikelhersteller übersetzte seine Richtlinien zur IT-Sicherheit in ein Spiel, das sich der Macht des Storytellings bedient: Der Akteur erlebt kleine Geschichten, die kritischen IT-Situationen skizzieren – und muss dort die richtigen Entscheidungen treffen. Darf ich dem Grenzbeamten mein Passwort nennen, wenn er meinen PC durchsuchen will? Was mache ich mit einem USB-Stick, den ich in der Lobby finde? Das Game belohnt den Spieler mit dem Fortschreiten der Geschichte.
Beispiel Department for Work and Pensions. Die britische Behörde ließ Einfälle von Mitarbeitern miteinander konkurrieren – über eine Ideen-Börse Namens Idea Street, dezentral für alle 120.000 Mitarbeiter. Hier handelten die Kollegen Ideen wie Aktien. Das Ergebnis nach ein paar Monaten: 1.400 Gedanken zum Geldsparen, 63 Umsetzungen. Verringerte Kosten: 25 Millionen Euro. Die traditionelle Ideenbox neben dem Kopierer hätte nicht einmal einen Bruchteil geschafft.
Beispiel SAP in seiner Developer Academy. Das Unternehmen integrierte eine Reise in die Ausbildung seiner Entwickler mobiler Anwendungen: eine von Insel zu Insel, jede Stellvertreter für den nächsten Teil einer Geschichte? – die Lern-Teams freischalteten, wenn sie in der realen Welt gemeinsam eine Aufgabe meisterten. Ein narrativer Fortschrittsbalken des kollaborativen Lernens.
Vorteil II: Gamification spart Geld
Und Vorteil Nummer zwei: Gamification in Unternehmen spart Geld. Sibylla Krane rechnet anhand des Kartenspiels vor: Natürlich kann ein Unternehmen mit 1.000 Vertriebsmitarbeitern für jährliche Fortbildung etwas über eine Million Euro für Coaches, Reisekosten zu Präsenz-Events und langem Produktivitätsausfall ausgeben. Oder es bietet eine mobile Fortbildungssoftware an, die einmalig ein paar Hunderttausend Euro kostet – die sich zudem schnell amortisieren. „Weil die Teilnehmer gleichmäßiger geschult werden.“
Und besser – dank schneller Updates und individuellen Lernoptionen: Der Spieler hat heute die grundlegenden Lektionen absolviert und hat morgen einen Termin in Finnland. Das Programm bietet eine tückische Aufgabe – und berücksichtigt dabei Eigenheiten skandinavischer Verhandlungskultur. „Es ist deutlich effizienter, das Wissen von Menschen spielerisch abzufragen und sie anschließend entsprechend ihres individuell Leistungsstands zu versorgen“, erläutert Thorsten Unger vom Bundesverband GAME.
Die Zukunft von Spielen als Benzin im unternehmerischen Lernmotor ist also algorithmisch? „Nein“, sagt Thorsten Unger. In einer idealen zukünftigen Lernumgebung wird „es einen Coach geben, der mithilfe digitaler Systeme das Wissen der Lernenden moderiert.“ Er prophezeit einen Paradigmenwechsel für die Art, wie wir lehren und lernen – zum einen via Games; zum anderen in offenen Lernsituationen, die überall abrufbares Faktenwissen nicht abfragen, sondern anwenden lassen. Und erläutert diese Idee anhand des Institute of Play und deren Projekt an der New Yorker Schule namens Quest to Learn. Hier lernen Schüler, in dem sie sich Lösungswege selber suchen und überprüfen – und das meist anhand eines eigens entwickelten Spiels. Rechnen lernen die dortigen Schüler zum Beispiel anhand von Raketen, die sie im Wettstreit möglichst weit ins All schießen müssen. Die Folgen: Eine Anwesenheitsrate der Schüler von nahe 100 Prozent. Und drei Mathe-Olympiasieger in den letzten drei Jahren.
Erfolg dank Software plus Mensch: Zukünftige Vertriebsmitarbeiter des Gamify-Now-Beispiels freuen sich auf ein Kartenspiel, dessen Vision einen Coach beinhalten könnte, der gegen den Lernenden spielt. Oder ihn beim Spiel unterstützt. Denn auch bei allen Entwicklungen zu noch mehr Algorithmus: Der Mensch wird beim Lernen weiterhin im Mittelpunkt stehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 19.05.2016 auf digtator.de, einem Medienprodukt von grasundsterne.